ÜBER DAS SCHREIBEN
Durch die Augen des Schriftstellers erschliesst sich dem Leser eine neue Welt, eine Welt, die sich ihm dank der Phantasie des Schreibenden öffnet, eine Welt, die sich von jener des Lesers unterscheidet, die ihm vielleicht sogar etwas umheimlich ist, ihn gleichzeitig aber auch fasziniert und hoffentlich bis zur letzten Zeile in den Bann zieht.
„Liebe ist käuflich, Rache auch!“ spielt in einer Welt, die den meisten von uns unbekannt ist. Ich bin mir bewusst, dass jeder Leser die Geschichte des Erik Hort anders erfährt, sich die Heldinnen und Helden so vorstellt, wie es ihm liegt oder es zu seiner Stimmung passt, und dass dies bestimmt nicht mit meinen Vorstellungen als Autor übereinstimmt. Diese Dinge passieren aber mitten in unserer Normalität, allzu oft verdrängt und verharmlost. Dies stört nicht, im Gegenteil.
Der Reiz von Geschichten ist, dass sie bei den Zuhörern und Leserinnen in unzähligen Varianten ankommen und unterschiedliche Gestalt annehmen können. Der Erzähler, der Schreiber wie auch der Vorleser sind nichts anderes als Vermittler einer Realität, die sich in den Köpfen der Zuhörerinnen und Leser bildet.
Ich habe dieses Werk den unzähligen Helden und Heldinnen des Alltags gewidmet, die sich unspektakulär, aber wirkungsvoll für eine ein bisschen gerechtere Welt einsetzen. Gerechtigkeit und Gleichheit sind keine eindeutig definierten oder definierbaren Begriffe, dennoch weiß jedermann – oder glaubt es zu wissen –, was gerecht ist oder nicht. Dies ärgert die Juristen und Philosophinnen; damit müssen sie aber leben. In der Realität sind die Gegensätze – und dies gilt erst recht für jene der Moral – meist nicht klar weiß oder schwarz. Interessanter sind im Leben oft die Grautöne. Dies mag die Arbeit der Gerichte schwieriger machen, als es die Gesetze vorsehen, was aber begabte Juristinnen in ihrem Tun beflügeln kann. So wie es der Held meiner Geschichte, Erik Hort, erfahren hat. Dieser junge Anwalt ist keine reale Figur. Einige meiner Freunde haben mich jedoch bei der Zeichnung seines Charakters und Temperaments angeregt.
Joseph Breitbach hat es einmal so formuliert: »Das zeitlos Gültige muss man am Zeitlichen darstellen. Kurz: das Thema: Wer durch den Fluss will, muss sich die Füße nass machen. Der am Rande stehen bleibt, hat nicht das Recht, sich über die nass und schmutzig gewordenen Füße zu räuspern.« Joseph Breitbach an Hans Erich Nossack, 15. Dezember 1955 (Quelle des Zitats: Joseph Breitbach, Rot gegen Rot, Die Erzählungen, Wallstein Verlag, Göttingen 2008, S. 426).